Die ersten Zürcher Poetry Slam Stadtmeisterschaften: Der Sieger im Interview

Portrait Sven Stickling

Die ersten Zürcher Poetry Slam Stadtmeisterschaften: Der Sieger im Interview

Anfang Januar 2022 fanden die ersten Zürcher Poetry Slam Meisterschaften statt. Nach zwei Vorrunden und dem grossen Finale im Schiffbau vor über 500 Menschen wurde Sven Stickling zum Sieger gekürt. Wir von poetryslam.ch haben das zum Anlass genommen, dem 41-jährigen ein paar Fragen zu stellen.

Für Leute, die dich noch nicht kennen: Wer bist Du?
Geboren wurde ich in Verl, einem kleinen Ort mit damals 20’000 Einwohnern in Ostwestfalen-Lippe (OWL), in der Nähe von Bielefeld, das es eben doch gibt. In OWL leben viele sture Menschen, die von aussen unfreundlich wirken und es auch sind, aber irgendwie haben sie doch alle ein Herz. Gespielt habe ich als Kind mit Lego, Playmobil, meinem Nintendo, den Nachbarn, im Handballverein und vor allem viel mit meiner Fantasie.

Nach dem Abruch meines BWL-Studiums, wechselte ich zu Erziehungswissenschaften mit Schwerpunkt Medien, Freizeit und Kultur. Nebenbei habe ich viel, wirklich sehr viel Theater gespielt, mit dem Schreiben begonnen, eine eigene Improtheatergruppe gegründet, für eine Lokalzeitung gearbeitet, für die Taz als freier Autor geschrieben und mit meiner schlecht bezahlten Selbstständigkeit als Filmer gehadert.

Nach und nach jedoch hatte ich als Autor und Schauspieler hier und da erfolgreiche Auftritte, Titel kamen dazu und letztlich konnte ich damit sogar Geld verdienen. Inzwischen bin ich seit über zehn Jahren selbstständig.
In die Schweiz verschlug es mich wegen der Liebe. Mit meinem Improduo «Die Stereotypen» wurden wir zu einem Festival mit dem namen SPUNK in die Schweiz eingeladen, nach Zürich. Am Flughafen stand sie, meine heutige Partnerin. Wir haben uns verliebt, sind zwei Jahre viel gependelt und schliesslich bin ich 2015 in die Schweiz gezogen.
Seit neuestem verheirate ich als freier Zeremoniar sogar Paare, die ausserhalb der Religion festlich Ja zueinander sagen wollen.

Wie bist Du zum Slam gekommen?

Mit frisch-frechen 23 Jahren habe ich Kurzgeschichten geschrieben. Das war im Jahr 2003 und zufälligerweise stolperte ich über einen Erzählwettbewerb vom Hörverlag.
Die «Vorrunde» fand in einer Buchhandlung in Bielefeld statt. Live, mit Publikum. Ich hab damals mit viel Nervosität und Energie zum ersten Mal eine selbstgeschriebene Geschichte vor Publikum vorgelesen. Eine Kindergeschichte mit dem Titel «Günther Braunbär – Honeymoon».

Als Sieger der Vorrunde habe ich mich fürs grosse Finale in einem Zelt in München qualifiziert. Ich bin dann Dritter geworden und meine Geschichte landete auf einer CD. Eine Mitarbeiterin vom Hörverlag schlug mir dann vor, es mit Poetry Slam zu versuchen. Das habe ich aber jahrelang verdrängt, bis ich dann im Jahr 2011 in einer Stadtzeitschrift entdeckt habe, dass es Poetry Slam in Bielefeld gibt.

Und zwar im Bunker Ulmenwall, einer der ältesten und tollstens Slam-Locations in Deutschland, mit 270 Grad Publikum. Mein Bauchgefühl sagte mir: «Sven, mach da einfach mit.»
Bühneerfahrung hatte ich ja mittlerweile vom Improtheater her genug. Und das hab ich dann auch getan, mit einem schrägen Text über meine damals komischen Nachbarn, die mich – fiktiv – verführen wollten. Ich war aufgeregt, das Blatt hat gezittert, wie verrückt, aber ich hatte Spass und das Publikum hat viel gelacht. So bin ins Finale gekommen und von da an hat es mich nicht mehr losgelassen.

Meine heisse Slamphase war von 2011 bis 2014, wo ich mehrmals die Woche unterwegs war. Damals gab es bei MySlam (myslam.net war eine Onlineplatform für die PoetrySlam Szene, die durch diverse Funktionen wie Terminkalender, Poetry Slam Karten, Performer:innen-Profilen sehr beliebt war. Anm. der Redaktion), noch ein Ranking mit Gold, Silber und Bronze. Da konnte man die Menge der Auftritte und Siege sehen und ich wollte unbedingt vorn dabei sein. Tatsächlich war ich ganz gut dabei. Heute haue ich mir selbst gegen die Stirn und denke: Was für ein Ego-Trip…

Was ist deine schönste Erinnerung was Poetry Slam angeht?
Ich kann es dir gar nicht genau sagen, es waren so viele und diese vielen waren so unterschiedlich. Sicherlich zählt der letzte Stadtmeisterschaften-Auftritt im Schiffbau vor 500 Leuten dazu, da es nach langer Pause ein grosser Auftritt ohne Siegabsichten und mit viel Spass und Präsenz war.

Was ich am Poetry Slam immer cool fand, war das «Hinter der Bühne». Die verrückten Menschen, die für ein paar Minuten Bühnenzeit, etwas Catering und ein paar Euro ganze Tage opfern, nur um etwas vorzutragen. Ein Konglomerat aus kreativen, verrückten, liebevollen Wesen. Wenn du länger dabei bist und nicht totalen Blödsinn machst, dann kommst du schnell in ein tolles Netzwerk rein und hast die Chance, den gesamten deutschsprachigen Raum zu bereisen und viele Bühne zu erleben und vor tausenden von Menschen zu stehen. Das ist einzigartig. Wo geht das sonst noch?

Noch ein besonders besonderer Moment war der 5. Bielefelder Hörsaalslam mit 1200 Zuhörern. Der Slam habe ich damals zusammen mit zwei Freunden, Jochen und Nico, ins Leben gerufen. Da hatten wir eine gewisse Julia Engelmann zu Gast. Mit einem damals recht guten Auftritt, der aber nicht zum Sieg reichte. Der Titel war irgendwas mit «One day / Reconning Text …». Der Auftritt wurde gefilmt und einige Wochen später bei Youtube in unserem Campus TV Channel hochgeladen. Einige Wochen passierte nichts und dann BÄMM, Julias Text und ihre Jeansjacke gingen viral.

Mein Telefon stand einige Tage nicht mehr still, weil ich von Campus TV Seite aus Ansprechpartner war. Das war verrückt. Die Klickzahlen, meine Güte… 13 Millionen bis jetzt. Ich versteh das Universum bis heute nicht, freue mich aber für Julia.

Wie gehst Du beim Schreiben deiner Texte vor?

Sehr intuitiv, das kommt vermutlich von meiner Karriere als Improvisateur. Ich habe eine Idee, ich öffne ein Dokument, fange an zu tippen, sage Ja zu fast allem was kommt und kotze das Worddokument voll. Daraus entsteht dann mit der Zeit etwas Tolles oder etwas, das ich mir nie wieder anschauen werde. Ich sage immer: Lieber 20 Ideen, von denen 1-2 etwas hergeben, als sich an einer die Zähne auszubeissen.

Die Ideen kommen mir überall. Mal sind es Stichworte, mal ist es ein Beitrag im Radio, mal ein Bild, mal eine Beobachtung. Hin und wieder kommt es auch vor, dass eine Idee innerhalb von 2 Stunden einen fertigen Text hergibt. Das ist dann magisch. Hatte ich aber länger nicht mehr…

Ich hab aber ein Gehirn, das gerne mit Worten spielt. Das passiert einfach den ganzen Tag, da kann ich nichts machen. Ich habe mich dem ergeben und versuche nicht mehr dagegen anzukämpfen. Am produktivsten war ich zu Beginn meiner Slamkarriere, als ich jeden Morgen von 9 bis 12 Uhr Schreibzeit terminiert hatte. Eine gewisse Zeit nach dem Studium. Leider hab ich diesen Rhythmus verloren und momentan, mit zwei Kindern und viel Unregelmässigkeit im Leben, passiert leider nicht so viel… Wenn die Kinder aus dem Haus sind, in 20 Jahren, dann mache ich das wieder… Ahhhhhh.

Was bedeutet es für Dich die erste Zürcher Meisterschaft gewonnen zu haben?

Ich freue mich darüber, aber der Titel selbst ist nicht wichtig. Dafür bin ich zu lange dabei und weiss, wie viel (Los-) Glück und Zufall dazugehört, um so etwas zu gewinnen.

Ich freue ich einfach, dass es zwei schöne Abende mit netten Kollegen waren und dass ich im Schiffbau zwei Texte vorlesen durfte und das Feedback dazu sehr positiv war. Vor allem aber geniesse ich den Gewinn – eine riesige Topfpflanze, die jetzt auf meinem Schreibtisch steht. Sie ist mein Highlight 2022! So grün und pflanzig. Wenn ich schon nicht genug in die Natur gehe, dann bringt der Stadtmeistertitel die Natur eben zu mir nach Hause.

Was verbindet Dich mit Zürich?

Vieles. Sehr vieles. Allen voran natürlich meine Familie. Meine Partnerin ist Zürcherin, unsere Kinder sind hier auf die Welt gekommen und haben den roten Pass. Wir wohnen am Züriberg mit netten Nachbarn, die auch Kinder haben. Eine kleine, nette Gemeinschaft. Bünzlig… Sowas verbindet. Als ich nach Zürich kam, hab ich hier gleich als Improschauspieler Fuss fassen können. Das Theater Anundpfirsich integrierte mich direkt und hat mir viele Gelegenheiten gegeben auf der Bühne zu stehen und mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Ich hatte also nie das Problem, von dem andere Deutsche berichten, die herkommen und einsam bleiben. Zürich ist meine neue Heimat, auch wenn es um mein Schweizerdeutsch noch immer schlecht bestellt ist.

Zur Stadt: Ich liebe diese wunderschöne Stadt, in der es Wasser in allen Formen gibt. Ich liebe es, im Sommer und im Winter in den See zu springen, mit dem Kinderwagen am Seeufer entlang zu joggen oder im Zoo von meiner Tochter bequengelt zu werden, dass wir doch bitte den Zoozug in die Lewa-Savanne nehmen sollen… Im Gegensatz zu Bielefeld, wo ich vorher über 10 Jahre lang gelebt habe, gibt es zu 90% nur schöne Ecken und sogar grossstädtisches Flair, obwohl Zürich gar nicht so gross ist. In Bielefeld war es andersrum. 10% okay, 90% solala. Immerhin haben wir in Bielefeld richtigen Fussball, das gibt es leider in Zürich nur ansatzweise.

Wo findet man Dich im Netz?

Für alle, die sich trauen wollen, bin ich unter www.jamitsven.ch zu erreichen. Für alle, die sich auch trauen, aber mehr für Auftritte und so, findet man mich unter www.svenstickling.ch

 

Interview: Jan Rutishauser
Foto: Sven Stickling